Weltweit operierende Konzerne und mächtige Politiker kommen nicht mehr am Netz vorbei. Durch soziale Netzwerke bekommen Internet-Nutzer ein machtvolles Sprachrohr. Auf konventionelle Medien sind sie nicht mehr angewiesen. Ein Experte prophezeit die Repolitisierung der Gesellschaft.
Es fing mit einem YouTube-Video an: Ein Mann beißt in einen “KitKat”-Schokoriegel. Blut rinnt aus seinem Mund. Ein Schriftzug wird eingeblendet: “Gib dem Orang-Utan eine Pause” – Protest gegen die Vernichtung von Regenwald. Seitdem ist ein Monat verstrichen, in dem Hersteller Nestlé zunächst den Film bei YouTube löschen ließ, seine Facebook-Seite mit 780.000 Fans vom Netz nahm und Reputation verlor. Der Konzern hat die Macht des Web zu spüren bekommen.
- Greenpeace-Protest vor der Nestlé-Zentrale gegen die Zerstörung des Regenwalds. Der Konzern reagierte hilflos auf die Kampagne, die vor allem im Internet ein großes Echo fand
Für Professor Peter Kruse ist der Fall Nestlé ein Beispiel für die politische Dimension des Internet. Seine These lautet: “Social Media ist ein Angriff auf die etablierten Regeln der Macht und erzwingt ein grundlegendes Umdenken.” Der Psychologe sprach 2010 beim Bloggerkongress re:publica in Berlin.Das Video ist Teil einer Kampagne von Greenpeace zur Rettung der Primaten, die im Regenwald leben. Greenpeace wirft “KitKat”-Hersteller Nestlé vor, Palmöl zu verwenden, das auf gerodeten Regenwald-Flächen gewonnen wird. Der Chef des Lebensmittelkonzerns sprach sich nach der Protestwelle zwar für ein Moratorium bei der Regenwald-Rodung aus und betont, den Kauf von Palmöl eines bestimmten Lieferanten bis zum Beweis der nachhaltigen Produktion gestoppt zu haben. “Doch für Greenpeace sind die Ankündigungen zu unverbindlich”, wie Volker Gaßner, Social Media Chef der Umweltorganisation, sagt. “Unsere Kampagne geht weiter.”
Vor der Verbreitung des Internet konnten Politik und Wirtschaft über solchen Protest hinwegsehen – jedenfalls so lange, bis Zeitungen und Fernsehsender über ein Ereignis berichteten. Wer etwas bewirken wollte, musste sich zunächst selbst ein Netzwerk suchen. Das war nicht immer leicht: “Beim Protest gegen die Volkszählung 1987 benutzten Bürger Geldscheine als Protestmedium”, erinnert sich Kruse. Sie schrieben “Ohne mich” auf die Banknoten und verbreiteten so ihre Botschaft.
Das war auch noch sieben Jahre später so, als ein paar bärtige Aktivisten der Umweltorganisation Greenpeace die Bohrinsel Brent Spar des Mineralölkonzerns Shell in der Nordsee besetzten und gegen das Versenken des Kolosses protestierten. Zwar gab es schon das Internet, doch es hatte seine kommunikative Dimension noch nicht entfaltet. Es waren damals die Fernsehbilder, die den Nerv der breiten Masse trafen und zum Boykott an Shell-Tankstellen führten, wie sich Volker Gaßner erinnert.
Die alte Kausalität, dass die Idee ein Netzwerk suchen muss, hat an Bedeutung verloren. Denn das Internet hat längst neue Regeln der Macht definiert, mit denen sich Wirtschaft und Politik abfinden müssen. Da gibt es kein Zurück. “Die Veränderungen durch das Internet sind systembedingt und daher außer durch die Abschaltung des Netzwerkes nicht zu stoppen”, sagt Kruse.
“Noch vor einem Jahr hätten Kampagnen nicht die Wirkung wie heute entfalten können”, sagt Gaßner. Auch eine Organisation wie Greenpeace musste lernen, den Mechanismus der Sozialen Netzwerke zu verstehen, um ihn nutzen zu können. “Auch wir mussten lernen zuzuhören und den Dialog zu pflegen. In der Zeit vor Social Media waren wir immer nur Sender”, sagt der PR-Experte. “Auch Konzerne müssen Kritik aushalten können”, sagt Gaßner. Der Dialog im Internet findet auf Augenhöhe statt.
Doch Entscheidungsträger reagieren dagegen oftmals hilflos auf Eruptionen im Web. Das war so im Fall der “KitKat”-Kampagne. Sie ruinieren dadurch die Reputation einer Marke, wie die Analyse der Stimmung im Internet belegt. Die Summe der positiven Bewertungen des Konzerns in der Blogosphäre sanken seit Mitte März um sechs Prozentpunkte, die negativen stiegen dagegen um fünf.
Es bedarf oft nur eines kleinen Impulses, um eine Welle im Internet auszulösen – wie im Fall des unbekannten Nutzers der Fotoplattform Flickr, der im September 2009 das Bild eines Wahlplakats von Kanzlerin Angela Merkel hochlud, das mit den Worten “Und Alle so – ,Yeaahh'” bekritzelt war. Blogger und Twitter-Nutzer verbreiteten das Foto im Internet. Und genau eine Woche später skandierte ein Flashmob von Hunderten Internetnutzern nach jedem Satz der Kanzlerkandidatin bei einer Rede in Hamburg lautstark “Yeah”. Noch mehr Resonanz erlebte ein VZ-Nutzer, der vergangenen Sommer zu einer Beach-Party auf der Insel Sylt aufrief. 5000 junge Leute kamen – und hinterher eine saftige Rechnung vom Ordnungsamt.
“Das Internet repolitisiert die Welt jenseits der Parteien”, sagt Kruse. Es verändere damit die Machtverhältnisse, indem es das Selbstbewusstsein der Gesellschaft stärke. “Die politische Macht geht auf die Masse über”, sagt der Professor. Durch das Web werde die Gesellschaft sich ihrer selbst bewusster. Und das stärke ihr Selbstbewusstsein. So werden Menschen politisch, die sich von den herkömmlichen, altbackenen Strategien der Politik nicht faszinieren lassen. Das hofft auch Volker Gaßner von Greenpeace: “Es würde mich freuen – vor allem wegen der jungen Leute, die überwiegend in ihren Communities unterwegs sind und auf die Empfehlungen ihrer Freunde hören.”
Kruse beschreibt die Entwicklung des Social Web in drei Phasen. Nach dem auf Faszination basierenden “Zugangsboom” der späten 90er-Jahre (Boris Becker 1999 für den Internetserviceprovider AOL: “Ich bin drin”) und dem Nutzungsboom der späten 00er-Jahre mit der rasanten Verbreitung der Sozialen Netzwerke folgt jetzt eine Welle, in der sich Internetnutzer machtvoll zu Bewegungen zusammenschließen. Sie hätten die politische Agenda gesetzt, und zwar ohne einen Rückgriff auf etablierte Strukturen und die etablierten Massenmedien, sagte Kruse.
Wer eine politische Veränderung erreichen will, sucht sich heute ein Netzwerk. Ein plausibles Beispiel dafür ist die “Zensursula”-Kampagne gegen Internetsperren zur Bekämpfung der Kinderpornografie im vergangenen Herbst – benannt nach der damalige Familienministerin Ursula von der Leyen. 134.014 Internetnutzer unterzeichneten eine Onlinepetition, die den Bundestag aufforderte, das Thema zu beraten. Die Mediengestalterin Franziska Heine hatte die Petition im April eingereicht, damit offenbar den Nerv der Webgemeinde getroffen und eine mächtige Welle im Internet initiiert.
Resonanzwellen können Gläser zerspringen lassen. “Resonanzwellen sind es auch, die Stürme im Internet erzeugen können”, sagt Professor Kruse. Ein hoher Vernetzungsgrad, die Spontaneität der Nutzer und das Vorhandensein von ohnehin im Web kreisenden Erregungen wie beispielsweise Retweets zu einem Thema sind der Nährboden für solche Hypes, die sich schnell aufschaukeln können. “Die Social Software des Web 2.0 ist ein Angriff auf die etablierten Regeln der Macht und erzwingt ein grundlegendes Umdenken”, sagt der Professor. Er rät Politikern oder Managern: Raus aus Expertengremien. Rein in die Netze. “Das soziale Web ist eine Lawine, die bereits zu Tal donnert”, ist seine Mahnung.
Quelle :
www.welt.de